Ikea-Möbel sollen in DDR-Gefängnissen produziert worden sein

3. Juni 2012

Dem schwedischen Möbelhändler wird vorgeworfen, in DDR-Gefängnissen produziert zu haben. Die Konzernverantwortlichen sind schockiert und wollen Aufklärung.

Es ist kalt und dunkel. Kein Kontakt, kein Buch, kein Blatt Papier, nur eine Pritsche und ein Klo. Birgit Schlicke beschreibt die Arrestzelle im DDR-Frauengefängnis in Hoheneck in Sachsen. „Wer nicht arbeiten wollte, kam sofort in die Isolationshaft“, sagt die 43-Jährige im Gespräch mit unserer Zeitung. Für Schlicke und die etwa 500 Frauen in Hoheneck bedeutete das Nähen im Akkord. 287 Bettbezüge in acht Stunden war die Vorgabe.

Geld gab es kaum. 1989 endete die Haft für die politische Gefangene Schlicke. Doch bereits ein Jahr später wurde sie von ihrer Vergangenheit eingeholt: Sie fand ihre Bettwäsche wieder – in einem Neckermann-Katalog.

Auch Neckermann sieht sich Vorwürfen ausgesetzt

Der Versandhändler ist kein Einzelfall. Mehreren Westunternehmen wird 23 Jahre nach dem Mauerfall vorgeworfen, an der Zwangsarbeit von DDR-Häftlingen verdient zu haben. Sie sollen billige Waren aus dem Nachbarstaat bezogen und sie günstig im Westen verkauft haben. Neben Neckermann sieht sich auch Ikea mit solchen Vorwürfen konfrontiert.

Die Diskussion war durch eine schwedische Fernsehdokumentation angestoßen worden. Die Journalisten hatten berichtet, dass im „Zuchthaus“ Waldheim in Sachsen Teile für Ikea-Sofas hergestellt worden waren. Auch das berühmte Billy-Regal sei teilweise „made in GDR“ (die englische Übersetzung für DDR). Teile für Bürostühle sollen ebenfalls in Ostdeutschland entstanden sein. Das berichtet Alexander Arnold. Er war 1983 elf Monate im Gefängnis in Naumburg an der Saale inhaftiert, weil er Flugblätter gegen die Aufrüstung mit Atomwaffen in Ost und West verteilt hatte. Er arbeitete in der etwa 20 Minuten entfernten Firma Mewa. Arnold erinnert sich: „Die Arbeitsbedingungen waren schrecklich.“

Schreckliche Arbeitsbedingungen

In der fensterlosen Halle mussten die Insassen an veralteten Stanzmaschinen von 1912 schuften. Arnolds Stimme stockt, wenn er erzählt, dass jegliche Sicherheitsvorkehrungen abgebaut waren, damit die Maschinen mehr Stückzahl bewältigten. „Die Zivilmeister haben uns gesteckt, dass wir für Ikea arbeiten“, sagt Arnold. „Wer unter 80 Prozent des Solls lag, galt als Saboteur“, erinnert er sich. „Der kam zehn Tage in die sogenannte Mumpe.“ Das waren Dunkelzellen im Keller. Wer die Arbeit gar verweigerte, wurde in das Dachgeschoss gesperrt. Was dort passierte, weiß der 51-Jährige nur aus Erzählungen: Dort lag man an Händen und Füßen ans Bett gefesselt, 23 Stunden am Tag, angezogen mit einem speziellen Overall. „Dreimal am Tag wurde man dann für 20 Minuten losgelassen, in denen man essen, sich waschen und auf die Toilette durfte, wenn man es denn schaffte, das neben den Schließern zu erledigen. Der Overall war für die, die es nicht schafften und dann in ihren eigenen Fäkalien liegen mussten.“

Ikea-Führung will Aufklärung

Die Ikea-Verantwortlichen sind über diese Schilderungen schockiert. Der Konzern reagiert und Ikea-Sprecherin Sabine Nold kündigt an, die Nachforschungen, die zu diesem Thema ohnehin laufen, zu beschleunigen: „Wir nehmen das Thema sehr ernst.“ Allerdings werde das Unternehmen hauptsächlich mit Behauptungen konfrontiert. Handfeste Beweise gebe es bislang kaum. Die Bundesbehörde für Stasi-Unterlagen bestätigt, dass Ikea eine Anfrage gestartet hat: „Ikea nimmt hier klar eine Vorreiterrolle ein“, sagte eine Sprecherin.

Auch Neckermann will aufklären. Der Versandhändler räumt zwar ein, zu DDR-Zeiten Waren verschiedenster Art, wie Spielzeug, Möbel und Textilien, von DDR-Lieferanten bezogen zu haben. Allerdings betont Neckermann-Sprecherin Anne Putz: „Über die Produktionsbedingungen und die Herkunft der Waren lagen nach jetzigem Sachstand damals keine Informationen vor.“

Ex-Hoheneck-Gefangene Birgit Schlicke sagt hingegen, dass den meisten Insassen bewusst gewesen sei, dass die Bettwäsche nicht für die DDR bestimmt war. Schlicke erinnert sich: „Wir wussten ja, was es in den Geschäften im Osten gab. Und die Bettwäsche, die wir hergestellt haben, war viel bunter und das Material viel hochwertiger als in der DDR.“

Auch ein CDU-Politiker war unter den Zwangsarbeitern. Dieter Dombrowski und die etwa 1300 hauptsächlich politisch Inhaftierten im Gefängnis in Cottbus stellten für den volkseigenen Betrieb (VEB) Pentacon Gehäuse von Praktica-Kameras her. Der heutige CDU-Generalsekretär Brandenburgs saß von April 1974 bis Dezember 1975 in Haft, weil er versucht hatte, die DDR zu verlassen. 20 Ostmark habe er damals im Schnitt pro Monat verdient. Das entspricht heute ungefähr drei Euro. Die Gefangenen mussten auch mit minderwertigem Werkzeug und schlechten Sicherheitsvorkehrungen zurechtkommen. Die Zwangsarbeit war ein sehr lukratives Geschäft: „Die Gewinnspannen der Westunternehmen waren exorbitant hoch“, ist sich Dombrowski sicher. Dass in Cottbus Häftlinge für die VEB Pentacon produzieren mussten, ist von Historikern belegt. Darauf verweist auch der heutige Nachfolger des Betriebs: Die 1997 neu gegründete Pentacon GmbH. Ein Sprecher sagt: „Wir bedauern das Schicksal der Betroffenen.“ Er stellt jedoch klar: „Wir sind allerdings nicht Rechtsnachfolger der damaligen VEB Pentacon.“

Zehntausende politische Gefangene saßen in Haft und arbeiteten

Zehntausende politische Gefangene saßen einst in DDR-Gefängnissen und arbeiteten. So hoch schätzt der Geschäftsführer der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, Karl Hafen, diese Zahl. Etwa 30 000 hat die Bundesrepublik seit 1968 aus der DDR freigekauft. Die Gesellschaft hat sie betreut. Dass Zwangsarbeiter auch Produkte hergestellt haben, die später in Westdeutschland verkauft wurden, war bekannt. Allerdings: „Wir hatten damals andere Sorgen. Wir wollten die Leute da rauskriegen“, sagt Hafen. Den Betroffenen geht es nicht um Geld, sondern um Aufklärung und eine Entschuldigung. Für sie ist klar, dass sie ausgebeutet wurden. „Ich war rechtswidrig inhaftiert und bin zur Arbeit gezwungen worden“, sagt Dombrowski. „Die Arbeit war zwar Zwang, aber der einzige Auslauf“ aus der 44 Quadratmeter großen Zelle, in der 28 Männer untergebracht waren. Und immer noch besser als die Alternative: Isolationshaft in einer kalten, dunklen Arrestzelle.

Quelle: Augsburger Allgemeine Zeitung, Daniela Deeg, 2. Juni 2012